Hörspiele: ... doch nicht für immer" _____ Projekt Tagebuchauszüge - Riga - Heimat - Hörproben - Dokumente - Mitwirkende

1944, 20 SEPTEMBER, DONNERSTAG, 12 UHR 55 MITTAGS

Glücklicherweise befinde ich mich noch in der Hauptstadt. Habe mich schließlich doch entschlossen, weg zu fahren. Eigentlich ist das ja ein Ereignis, über das man ewig Tränen vergießen müsste. Aber gut – kommen wir eben aus mit einigen wenigen, vielleicht allzu bitteren. Habe mir fast eine Beule am Kopf geholt vor lauter Nachdenken und Grübeln über den Richtungswechsel in meinem Leben.
Eben kommt Tante und erzählt uns, dass man auch bei ihr in der Arbeit davon redet, besser nach Talsis oder nach Civars zu fahren.
Die momentane Lage ist gerade schrecklich – als ob Vidzeme, Livland und selbst Riga nicht zu halten sein werden. Gestern Abend war wieder ein ziemlich heftiger Bombenangriff, am stärksten wohl in der so heimgesuchten Pardaugava auf der anderen Seite der Daugava, der Düna.
Gestern gab es einen unendlich traurigen Abschied von unserer alten Wohnung an der Parka Straße, vom Fräulein Weinbergs und den beiden Hausmeistern. Onkel K. rief noch an ... Es ist furchtbar. Ich hatte kein Taschentuch und brachte daher fast kein Wort heraus ...

1944, 29 SEPTEMBER, FREITAG, 8 UHR 45

Morgenstunde in Litauen – wahrscheinlich bin ich überhaupt das erste mal im Ausland. Hier ist das Grenzstädtchen Skuodas. Diese Reise ist halbwegs unbeschreibbar, jedenfalls fallen mir die Schilderungen sehr schwer. Aber schlussendlich müsste man ja an das alles erinnern.


Der Hafen von Liepaja / Libau, Oktober 1944.
Vieles musste zurückbleiben, großes Gepäck, Möbel, Tiere.
Gerade hält auf dem Nebengleis ein Verwundetentransport. Beinahe hätte man uns gestern nach Deutschland verbracht, nach Krottingen. Das war eine besondere Aufregung.
Ich habe mir inzwischen eine kaum zu glaubende Ruhe erworben, Gott hat geholfen. Es scheint, als ob diese Fahrt doch notwendig war, vielleicht, um einfach bewusster zu werden. Gestern fuhren wir an Airiite, Skrunda, Sieksaate, Paplaka und anderen Orten vorbei. Wir fühlen uns alle drei vollkommen frei. Dass wir uns nicht richtig waschen können, der Mangel an Lebensmitteln, auch dass die Kleider ständig in Mitleidenschaft gezogen werden, all das zieht dann doch vieles ins Negative. Aber immer ist das alles etwas Neues und es ist eben auch interessant ...
In Tukums standen wir dann auch zwei Tage, und am dritten haben wir uns gegen halb sechs Uhr abends wieder fortbewegt. Wir mussten ein gefährliches Kriegsgebiet durchqueren, die Gleise waren gerade frisch verlegt und angsteinflößend wacklig. Wir fuhren durch die Nacht und sahen den Widerschein von Explosionen an der Front. Besonders großartig ist es, am Abend in der Halbdämmerung, der Blauen Stunde, zu sitzen und den vorbei gleitenden Feldern nach zu blicken – dann fühlt man sich mit allem eins.

1944, 16 OKTOBER, MONTAG 11 UHR 05

Wir sind auf dem Schiff. Jetzt sind wir endgültig auf dem Weg zur anderen großen Heimat. Ich fühle mich ziemlich elend, da ich nun einmal diese ganze Sache angefangen habe, dennoch versuche ich doch tapfer zu sein, mich einigermaßen über Wasser zu halten. Die Frage danach, was ich arbeiten werde, treibt mich ständig um. Aber vielleicht wird sich das ja günstig und von selbst ordnen.
Aber trotz allem – es geschieht das beste. Rita fährt auch auf unserem Schiff. Die Überfahrt ist wohl ziemlich gefährlich. Auch gestern Nacht haben wir noch einigen Alarm durchgestanden, bei den Anlegestellen, mit unseren Sachen. Überhaupt war das Gedränge auf das Schiff mit dem ganzen sperrigen Gepäck eine Qual. Und dann fing auch noch so ein Deutscher an, schreckliche Dinge über unser künftiges Schicksal zu verbreiten, dass wir nie mehr zurückkehren würden. Aber wir müssen doch einmal heimkehren. Aber jetzt bleibt das Land unserer Kindheit hier zurück, alles, alles bleibt hier. Und wie werden wir noch in Deutschland umherstreunen. Überhaupt ist unser Schicksal ziemlich ungewiss.


Der Hafen von Gdünja / Gotenhafen, Polen heute.
Hier kam das Schiff aus Liepaja an.

1944, 24. OKTOBER, DIENSTAG, 5 UHR 55
Nach langem und schwierigem Hin- und Her sind wir gemeinsam auf dem Weg nach Salzburg. Im Moment sind wir am Bahnhof Schneidemühl und warten auf den Zug nach Berlin. Ich hatte mich mit meiner Schwester schon ganz auf einen Arbeitstag eingestellt, als wir endlich doch noch einmal den Lagerführer fragen können, was wir tun sollen. Er schien uns ganz vergessen zu haben, wusste nicht so recht, was er mit uns anfangen soll, und hat uns schließlich erlaubt, nach Salzburg zu fahren. Es scheint, als ob alles gut wird. Ein wenig fürchte ich mich ja schon davor, so ganz ins Blaue hinein in eine fremde Stadt zu fahren, noch dazu in einem fremden Land.


Der Bahnhof von Schneidemühle, dem heutigen Pila.

1944, 11. NOVEMBER, SAMSTAG 3 UHR 35
Jetzt sind wir wohl am Endpunkt unserer Reise ins Ausland angelangt. Und das wäre dann Augsburg, bei der Firma Nagler und Sohn, die hauptsächlich im Textilbereich tätig ist. Nun denn – wir werden zu Weberinnen!

1944, 12. NOVEMBER, SONNTAG, 5 UHR 50
Hier sind wir nun und hier bleiben wir. In dieser Gruppe ist es nicht so schwer und manchmal sogar ganz interessant. Aber dann kann ich wieder die Tränen nicht zurückhalten. Gestern spielte irgendjemand "Wer die Heimat liebt ...". Gestern Abend hat sich herausgestellt, dass wir uns nicht ganz richtig verhalten haben bezüglich der Polizei und den ganzen Karten, und jetzt könne man uns zu den rechtlosen Ausländern zählen und nicht zu den Volksdeutschen. Wunderbar, hier in diesem großen Saal, der früher einmal ein Klub war, steht ein Radio und – kaum zu glauben – ein Klavier! Das macht viel Freude ...


Die Pension in Salzburg, in der meine Mutter 1944 unterkam,
ist heute der Nachtclub 'Roma'.

Ach, was ist nicht alles in Riga geblieben, Bücher , Noten ... Mir tut richtig das Herz weh angesichts dieses Unglücks. Wie gut, dass ich wenigstens das Heft mit den Gedichten habe, die ich aufgeschrieben hatte. Und die stillen Fragen werden mehr. Wer konnte schon ahnen dass wir einmal solche Tage erleben würden?

1945, 8. MAI, 19 UHR 32
Frieden, es ist Frieden auf der Welt! Kann denn das sein? ... Die Lage ist die, dass die Amerikaner den Russen ein Ultimatum gestellt haben – innerhalb von 10 Tagen müssen sie sich auf die Vorkriegsgrenzen von 1939 zurückziehen, oder einen Krieg mit Amerika beginnen. Das bedeutet, dass auch unser Land wieder frei sein wird. Können wir wirklich auf so eine glanzvolle Zukunft hoffen?

1945, 9. MAI, 6 UHR 30
Sogar die Müdigkeit ist verflogen mit den Gedanken an die große Heimreise, ich weiß nicht, wie es erst sein wird, wenn wir dann genau über unsere Rückkehr bescheid wissen. 20 UHR 25 Ach weh! Wahrscheinlich geht das Leben doch weiter in dunklen Farben. Jetzt ist keine Rede mehr von einem Rückzug der Bolschewisten ...